Wie D2C-Brands der Konsumgüterindustrie das Leben schwer machen

Warum ich diesen Artikel schreibe und wen er interessieren könnte

Im vergangenen Sommer hatte ich das Vergnügen, der K5 Future Retail Conference im Berliner Estrel beizuwohnen. Einen ausführlicheren Nachbericht zur gesamten Veranstaltung habe ich im Anschluss an das Event bereits veröffentlicht:

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Einer der Vorträge, die mir am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben sind, war die Präsentation von Dr. Martin Schulte, Partner for Retail bei der Unternehmensberatung Oliver Wyman. In seinem Talk lenkte er den Fokus höchst eindrücklich auf einen globalen Trend, der sich unterhalb des Radars vieler Handelsexperten abspielt: den Angriff zahlreicher auf das Direct-to-consumer-Business (D2C) spezialisierter Microbrands auf das Geschäft etablierter Konsumgüterkonzerne wie z.B. Unilever oder Procter & Gamble.

Martin Schultes Vortrag hat mich auch nach der K5 beschäftigt, sodass ich den Weg einiger D2C-Brands genauer verfolgt habe. Dabei bin ich unter anderem auch auf einen interessanten Talk gestoßen, in dem mit JT Marino, Co-Founder und Chief Visionary bei Tuft & Needle, und Moiz Ali, Founder und CEO von Native, zwei Protagonisten der Szene zu Wort kommen. Ihre praktischen Erfahrungen möchte ich im folgenden Beitrag mit den theoretischen Beobachtungen Schultes in Beziehung setzen – um sowohl interessierten Gründern als auch Vertretern der etablierten Konsumgüterindustrie einen fundierten Einblick in den aufstrebenden D2C-Markt zu geben.

Was sind D2C-Brands eigentlich?

Dankenswerterweise haben die Organisatoren der K5 Martin Schultes Vortrag inzwischen in voller Länge auf YouTube geteilt:

In seiner Präsentation geht er auf die Charakteristika der von ihm selbst als Microbrands bezeichneten Unternehmen ein:

  • Sie suchen sich gezielt große, aber innovationsschwache Industriezweige – wie z.B. Matratzen, Koffer oder Weißware – und konzentrieren sich innerhalb dieser Branche auf ein äußerst schmales Produktportfolio, das sie ihren Kunden anbieten.
  • Sie reagieren nicht passiv auf die derzeitige Umwälzung des Handels, sondern machen die Veränderungen – wie den Bedeutungszuwachs des Onlinehandels und der sozialen Netzwerke – zum zentralen Bestandteil ihres Geschäftsmodells.
  • Sie sind im Schnitt 266 x kleiner als die von ihnen angegriffenen Konsumgüterkonzerne, wachsen aber durchschnittlich 19 x schneller.

Auf Basis derartiger Wachstumsraten konnten sich beispielsweise D2C-Brands wie Casper, Tuft & Needle und andere im Matratzenmarkt bereits 8 Prozent des Gesamtumsatzes der Branche sichern. Oliver Wyman geht daher davon aus, dass Microbrands in Segmenten, in denen sie bislang etwa 4 bis 5 Prozent des Umsatzes generieren, bis 2025 ein Viertel des Marktes für sich beanspruchen könnten.

Was machen D2C-Brands anders als die etablierten Konzerne?

Die neue Herangehensweise der D2C-Brands zeigt sich laut Martin Schulte in unterschiedlichen Bereichen.

  • Im Bereich der Markenbildung fokussieren sich die Unternehmen klar auf den Kunden. Anstatt den klassischen Einzelhandel zu beackern und über diesen Mittelsmann den Endkunden erreichen zu wollen, sprechen die D2C-Brands – getreu ihrer Bezeichnung – den Konsumenten über digitale Kanäle direkt an und versuchen beispielsweise durch konsequentes Content Marketing in Social-Media-Kanälen ihre Marke aufzubauen.
  • Auch im Bereich der Distribution nutzen D2C-Brands vorwiegend digitale Kanäle und umgehen auf diese Weise den Mittelsmann in Gestalt des Einzelhandels. Auf diese Weise müssen sie sich zum einen nicht mit der Herausforderung auseinandersetzen, überhaupt erst einmal vom Handel gelistet zu werden, und vergrößern zum anderen auch noch ihre Marge.
  • Hinsichtlich der Innovation zahlt sich aus, dass sich D2C-Brands häufig nur auf wenige Produkte konzentrieren. Auf diese Weise halten sie ihre R&D-Aufwendungen in Grenzen. Zudem wird der Kunde z.B. über A/B-Tests sehr viel stärker in die Produktentwicklung eingebunden, sodass in schnellen Releasezyklen konkretes Kundenfeedback in die Produktoptimierung einfließen kann.
  • Die D2C-Brands profitieren im Hinblick auf die Beschaffung zudem sehr stark von der Globalisierung. Dank der erheblichen Produktionskapazitäten v.a. im asiatischen Raum ist es heutzutage selbst kleinen Start-ups möglich, ihre Produkte unkompliziert produzieren zu lassen.
  • Hinzu kommen erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die Organisation. Während die Konzerne meist auf große Teams in einem stark organisierten Rahmen setzen, kommen die D2C-Unternehmen mit sehr viel kleineren Teams aus, wodurch ihnen ein agileres Arbeiten leichter fällt.

Ein Blick in die Praxis: Tuft & Needle und Native als Beispiele für erfolgreiche D2C-Brands

Wie diese – unvollständige – Übersicht zeigt, hat sich gerade in den Vereinigten Staaten eine äußerst facettenreiche D2C-Szene etabliert. Mit JT Marino und Moiz Ali lud Peter Kafka, Redakteur des Blogs Recode, zwei Vertreter dieser Szene auf der Konferenz Code Commerce zum Gespräch. Kurz zur Einordnung der beiden – in Deutschland vielleicht nicht ganz so sehr im Fokus stehenden – Unternehmer: JT Marino gründete im Jahr 2012 gemeinsam mit Daehee Park die Matratzenmarke Tuft & Needle, die im vergangenen Jahr mit dem größten Matratzenhersteller Nordamerikas, Serta Simmons, fusionierte. Moiz Ali wiederum hob im Jahr 2015 die Deodorantmarke Native aus der Taufe, die zwei Jahre später für rund 100 Millionen US-Dollar von P&G übernommen wurde. Der äußerst erkenntnisreiche Talk der beiden wurde von den Veranstaltern glücklicherweise ebenfalls auf YouTube hochgeladen:

In ihren Aussagen bestätigen Moiz Ali und JT Marino die von Martin Schulte auf der K5 ausgeführten Erkenntnisse über die Arbeitsweise der D2C-Brands in weiten Teilen. Darüber hinaus werden einige interessante Details noch vertieft.

  • Die D2C-Brands setzen in ihrer Markenbildung auf aktuellen technologischen Entwicklungen auf. Moiz Ali gibt im Rahmen des Talks ohne Umschweife zu, dass der Erfolg seines Unternehmens vor einigen Jahren in dieser Form noch nicht möglich gewesen wäre. Entscheidend für diese Entwicklung sei insbesondere die Möglichkeit, die Zielgruppe für Social-Media-Kampagnen über Customer Targeting genau zu definieren, diese Personen gezielt zu incentivieren und den Erfolg der Kampagne im Detail tracken zu können. Vor noch nicht allzu langer Zeit seien solche Kampagnen wie der Abschuss einer Kanonenkugel gewesen: Man habe in eine Richtung gefeuert und gehofft zu treffen. Manchmal sei die Kanone dabei aber auch im eigenen Gesicht explodiert. Dank der Weiterentwicklung von Facebook und anderen Social-Media-Kanälen sei die Kundenansprache heutzutage deutlich präziser und erlaube einen effektiveren Markenaufbau. (An dieser Stelle sei auch auf den Code-Commerce-Talk mit Susan Tynan, CEO und Founder von Framebridge, und Jennifer Rubio, Co-Founder und Chief Brand Officer von Away, hingewiesen, die ebenfalls erfolgreiche D2C-Brands aufgebaut haben. Laut den beiden sei durch das präzise Kampagnentracking auch ein schnelles Umshiften der Marketingbudgets zwischen den Kanälen möglich – ein weiteres Erfolgsgeheimnis im Rahmen der Markenbildung.)
  • Durch die starke Fokussierung auf die direkte Ansprache des Kunden lässt sich der Einzelhandel in der Distribution konsequent umgehen. Die Mund-zu-Mund-Propaganda wird explizit gefördert, sodass die Kundschaft im Idealfall selbst zur Salesforce wird. E-Commerce-Infrastrukturen tun ihr Übriges, um am traditionellen Handel vorbei arbeiten zu können. Diese Umgehung des Handels hat neben der Erhöhung der Marge noch einen weiteren Vorteil: Im direkten Kontakt mit dem Kunden erhalten die Microbrands äußerst wertvolle Daten über die Vorlieben ihrer Kundschaft, anhand derer sie ihr Angebot weiter verbessern können. Neben dem Onlinebusiness werden – wie beispielsweise im Falle von Framebridge und Away – zunehmend auch stationäre Geschäfte in Eigenregie betrieben. Auch deren Design wird daraufhin optimiert, zur Mund-zu-Mund-Propaganda der Kunden über Social-Media-Kanäle beizutragen – bspw. über im Store geschossene Kundenfotos, die via Instagram geteilt werden.
  • Auch wenn sich D2C-Brands auf ein schmales Produktportfolio konzentrieren, sind gewisse R&D-Aufwände vorhanden. Im Gegensatz zu vielen Konsumgüterkonzernen involvieren Microbrands ihre Kunden aber deutlich stärker in die Produktentwicklung. Laut Moiz Ali sei es seinem Unternehmen nur durch großangelegtes A/B-Testing möglich gewesen, ein zunächst mittelmäßiges Produkt zu verbessern. Nach Ansicht von JT Marino können persönliche Erfahrungen mit der Techszene dabei helfen, diese Form der Innovation im eigenen Unternehmen zu etablieren. Bei Tuft & Needle sei es beispielsweise nie das Ziel gewesen, schon beim ersten Release das perfekte Produkt auf den Markt zu bringen. Die Philosophie müsse stattdessen sein, möglichst oft zu releasen und das Produkt dabei anhand des Kundenfeedbacks so schnell wie möglich zu optimieren. Die Produktentwicklung ist demnach nie zu Ende.
  • Im Bereich der Beschaffung ist der Kreis der potentiellen Zulieferer durch die Globalisierung selbstverständlich deutlich größer geworden. Zugleich ist es für D2C-Brands wie Tuft & Needle aber auch schwierig, Fabrikanten von einer Zusammenarbeit zu überzeugen. Dies hat vor allem zwei Ursachen: Zum einen sind viele Produzenten auch Partner der etablierten Konsumgüterkonzerne, die die Microbrands angreifen. Zum anderen sind sich die D2C-Brands bewusst, dass sie für ihre Hersteller – aufgrund des gerade in der Anfangszeit schmalen finanziellen Rahmens und der häufigen Produktanpassungen – durchaus schwierige Geschäftspartner sind.
  • Angesichts der Konzentration auf wenige Produkte und einer Unternehmensphilosophie, die ein agileres und iteratives Arbeiten postuliert, sind D2C-Brands in ihrer Organisation weniger starr aufgebaut als ihre Konkurrenz. Zudem kommen Microbrands als klassische Start-ups mit vergleichsweise kleinen Teams aus: Moiz Ali war beispielsweise etwa ein Jahr lang der einzige Mitarbeiter seines Unternehmens. Angesichts dessen, dass Native im Jahr 2015 gegründet und bereits zwei Jahre später von P&G übernommen wurde, musste Ali nur etwa ein Jahr lang Mitarbeiter beschäftigen, um ein 100-Millionen-Dollar-Business aufzubauen.

Gibt es auch Beispiele aus Deutschland?

Auch wenn sich in der Bundesrepublik noch längst nicht so viele D2C-Brands etabliert haben wie in den Vereinigten Staaten, existieren auch hierzulande einige Pioniere in diesem Bereich. Unternehmen wie Bett1 (Matratzen), Lillydoo (Windeln und Babypflege), Horizn Studios (Koffer) oder der auch in Deutschland sehr aktive niederländische Blumenversender Bloomon variieren die genannten Erfolgsstrategien in ihrem Sinne und arbeiten aktiv daran, die bisherigen Platzhirsche ihres Wirtschaftszweiges auch in Deutschland und Europa anzugreifen. Lesenswert ist in diesem Zusammenhang das Interview des Horizn-Studios-Gründers Stefan Holwe mit dem Magazin „Berlin Valley“.

Wie können etablierte Konzerne auf den Angriff der D2C-Brands reagieren?

Auch wenn der beschriebene Angriff längst noch nicht in allen Bereichen der Konsumgüterindustrie zu spüren ist, ist davon auszugehen, dass sich in Zukunft in weiteren Segmenten ähnliche Entwicklungen zeigen werden. Damit ist der Erfolg der Microbrands für die im Konsumgüterbereich etablierten Unternehmen eine ernstzunehmende Herausforderung. Für die betroffenen Konzerne ergeben sich aus Sicht Schultes vier Möglichkeiten:

  1. Sie können erfolgreiche D2C-Brands aufkaufen.
  2. Sie können neben ihrem etablierten Geschäft eigene D2C-Brands aufbauen.
  3. Sie können von D2C-Brands lernen und ihr Unternehmen kulturell und organisatorisch komplett neu aufstellen.
  4. Sie können mit D2C-Brands kooperieren.

Fazit

Die Übernahme von Native durch P&G und die Fusion von Tuft & Needle mit Serta Simmons zeigen eindeutig, dass einige Konzerne diese Ratschläge bereits aktiv umsetzen. Ein weiteres Beispiel ist der deutsche Konsumgüterriese Henkel, der mit der Haarcoloration #mydentity eine eigene D2C-Marke entwickelt hat. Damit scheint eines festzustehen: Die Microbrands haben Bewegung in über Jahre stabile Märkte gebracht und werden in den kommenden Jahren auch weitere Industriezweige aufmischen. Ob die Karten in diesen Sektoren tatsächlich neu gemischt werden oder der Angriff der D2C-Brands ein Strohfeuer bleibt, hängt erheblich von den weiteren Reaktionen der etablierten Konsumgüterkonzerne ab. Die Beispiele zeigen, dass zumindest einige von ihnen die Zeichen der Zeit erkannt haben und sich bemühen, das Know-how der Angreifer an sich zu binden, um daraus zu lernen.