„Der Umgang mit der Digitalisierung ist wie das Erlernen einer neuen Sprache“

Wie kann es gelingen, einen über 125 Jahre alten und global tätigen Großkonzern fit für den digitalen Wandel zu machen? In ihrem Vortrag „Wie gewinnt man mit der Gorch Fock den America’s Cup?“ wird Bettina Stoob, Head of Global Innovation des Industrieversicherers Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS), die Zuhörer am 6. September um 11 Uhr auf der solutions.hamburg an ihrem persönlichen Erfahrungsschatz teilhaben lassen. In einem Gespräch mit der mgm-Redaktion gibt sie bereits einen kleinen Vorgeschmack.

mgm-Redaktion: Frau Stoob, Sie fungieren bei AGCS als Head of Global Innovation. Welche konkreten Aufgabenstellungen stellen sich Ihnen in dieser Position?

Bettina Stoob: Das Thema Innovation war bei AGCS lange nicht institutionalisiert. Stattdessen entwickelten sich Innovationen eher zufallsgetrieben: Wenn ein Mitarbeiter eine Idee und zudem noch die Power hatte, um sie im Unternehmen zu verankern, ist etwas passiert – sonst eher nicht. Aus diesem Grund wurde meine Funktion ins Leben gerufen. Ich habe das Konzept definiert, die Organisation abgesteckt, Prozesse entwickelt und Mitarbeiter eingestellt. Auf dieser Basis haben wir den Themenkomplex Innovation für das Unternehmen definiert: Innovation ist bei uns eine kundenzentrierte Funktion. Wir kümmern uns somit um alles, was auf der Produktentwicklungsseite geschieht oder das gesamte Geschäftsmodell betrifft und dabei einen signifikanten Mehrwert für den Kunden bietet – entweder indem etwas komplett Neues geschaffen oder etwas Bestehendes spürbar verändert wird. Bei uns stehen also hauptsächlich die radikalen Themen auf der Tagesordnung.

mgm-Redaktion: Ich nehme mal an, dass die Digitalisierung eines dieser radikalen Themen ist.

Bettina Stoob: Definitiv. Schließlich rollen bei uns keine Autos oder anderen physischen Güter vom Band. Wir verkaufen im Prinzip das Versprechen, dem Kunden ein Risiko abzunehmen und ihm im Schadensfall beizustehen. Das Einzige, worin sich dieser Prozess widerspiegelt, ist ein Stück Papier. Insofern ist Digitalisierung für uns ein zentrales Thema, weil Innovationen bei uns nicht vonstattengehen können, ohne dass die IT angefasst wird. In anderen Unternehmen kann man vielleicht den Geschmack eines Gummibärchens oder die Zusammensetzung einer Creme verändern, aber Produkte in Größe, Form oder Farbe zu variieren macht bei einer Versicherungspolice wenig Sinn.

mgm-Redaktion: Gibt es Bereiche in Ihrem Unternehmen, in denen der digitale Wandel besonders zu spüren ist?

Der Kunde weiß inzwischen, was es heißt, sofort eine Leistung zur Verfügung gestellt zu bekommen, direkt eine Antwort auf seine Frage zu erhalten oder auch sofort einen Preis genannt zu bekommen.

Bettina Stoob: Man hört bei Diskussionen innerhalb unseres Unternehmens häufiger das Argument, dass unser Geschäft von den persönlichen Beziehungen zum jeweiligen Kunden getrieben wird und der digitale Wandel daher nicht so signifikant ausfallen wird. Ich sage dann immer: „Ja, unser Geschäft hängt von der persönlichen Beziehung ab. Aber das heißt für mich nicht, dass für uns nicht auch genügend Spielraum für die Digitalisierung vorhanden wäre. Auch unser Kunde, der Risikomanager eines internationalen Großkonzerns, kauft vielleicht Bücher bei Amazon oder reserviert seine Ferienwohnung bei Airbnb.“ Der Kunde weiß inzwischen, was es heißt, sofort eine Leistung zur Verfügung gestellt zu bekommen, direkt eine Antwort auf seine Frage zu erhalten oder auch sofort einen Preis genannt zu bekommen. Derzeit sind wir nicht immer in der Lage, diese drei Anforderungen zu erfüllen. Insbesondere bei AGCS nicht, weil unser Geschäft das große Industriegeschäft ist, in dem vieles für den Kunden handgestrickt werden muss. Trotzdem glaube ich, dass es insbesondere in der Customer Experience einen großen Bereich gibt, in dem wir vieles tun können, das die Arbeit des Kunden schon heute extrem erleichtern würde.

mgm-Redaktion: In Ihrem Vortragstitel vergleichen Sie AGCS mit der Gorch Fock – ein sehr großes Schiff, äußerst renommiert, aber wahrscheinlich auch schwer zu wenden…

Bettina Stoob: Ich sage immer: „Wir liegen gut im Wasser, sind sehr stabil und kentern nicht sofort.“ Dafür sehen die Wendemanöver moderner Rennyachten natürlich spektakulärer aus. Solche Kursänderungen sind mit einem Schiff wie der Gorch Fock nur schwer durchführbar. Da ist es schon eine Herausforderung, die Brücke davon zu überzeugen, dass etwas auf uns zukommt, das wir besser umschiffen sollten. Die zweite Herausforderung ist, die gesamte Mannschaft dazu zu bewegen, bei der Kursänderung mitzumachen. Schließlich sind die Mitarbeiter in einem Unternehmen wie AGCS sehr unterschiedlich: Da gibt es junge Leute, die sozusagen mit dem Handy auf die Welt gekommen sind, aber auch langjährige Mitarbeiter, die zu Zeiten bei der Allianz angefangen haben, als es noch Lochkarten gab. Diese Kollegen verstehen die heutige Welt manchmal einfach nicht mehr. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass die wenigsten sie nicht verstehen wollen. Den meisten fehlt stattdessen die Möglichkeit, sich auf ihre Art und Weise mit dem Thema vertraut zu machen.

mgm-Redaktion: Wie gelingt es Ihnen, dass diese Leute trotzdem mitgenommen werden und sich nicht in eine Abwehrhaltung begeben?

Bettina Stoob: Wir sind gerade dabei, eine Initiative namens „Digital Literacy“ ins Leben zu rufen, die auf den Erfahrungen basiert, die wir Anfang der 2000er gemacht haben. Damals hat die Allianz viele Unternehmen im Ausland übernommen und in den Konzern integriert. Dadurch gab es schlagartig das Bedürfnis, die Firmensprache von Deutsch auf Englisch umzustellen. Viele Mitarbeiter hatten die Sprache jedoch lediglich 10 bis 20 Jahre zuvor in der Schule gelernt. Sie konnten zwar in einem Pub Fish and Chips bestellen, waren es aber nicht gewohnt, ein Meeting oder ein geschäftliches Telefonat auf Englisch zu führen oder in dieser Sprache einen Brief zu schreiben. Dieses Problem hat man mit einem großangelegten Programm in den Griff bekommen, sodass Englisch heute konzernweit Standardsprache ist. Im Hinblick auf den digitalen Wandel werden wir ein ähnliches Programm aufsetzen müssen, weil das Thema über die IT hinausgeht und sämtliche Prozesse betrifft. Darauf muss man die Menschen vorbereiten. Es ist im Prinzip wie das Erlernen einer neuen Sprache oder einer neuen Fähigkeit.

mgm-Redaktion: Um im Bild Ihres Vortragstitels zu bleiben: Im Rennen um den America’s Cup sind ja nicht nur Sie als Gorch Fock unterwegs, sondern auch die bereits angesprochenen hochgetunten Rennyachten. Wen identifizieren Sie derzeit als Ihre größten Konkurrenten?

Insbesondere in Großbritannien, den USA und Asien haben Start-ups den Mut, das traditionelle Geschäft frontal anzugreifen.

Bettina Stoob: Die hochgetunten Rennyachten kommen in unserem Fall aus der Start-up-Welt. Da der Versicherungssektor sehr stark reguliert ist, haben wir uns lange sehr sicher gefühlt. Wenn man in der Vergangenheit versucht hat, eine Versicherung zu gründen, war dies äußerst kapitalintensiv. Das ist heute anders. Zum einen vergeben Regulierungsbehörden heute Versicherungslizenzen, wenn ihnen ein gutes Geschäftsmodell glaubhaft dargestellt wird, und zum anderen investieren die Venture-Capital-Gesellschaften zurzeit sehr viel Geld in die InsurTech- und FinTech-Branche. Insbesondere in Großbritannien, den USA und Asien haben die Start-ups zudem den Mut, das traditionelle Geschäft frontal anzugreifen, und versuchen nicht, sich innerhalb des Status quo zu positionieren. Darauf zu reagieren ist für uns schwierig, weil sie sich viel schneller bewegen, viel schneller Entscheidungen treffen, viel schneller an Geld kommen und enorme Summen zur Verfügung haben. Neben diesen Wettbewerbern spielen auch die großen Tech-Unternehmen eine Rolle. Bis jetzt sind sie zwar noch nicht so wahrnehmbar, aber ich glaube, dass ein Konzern wie Google den Versicherungsmarkt in der Zukunft noch einmal ordentlich aufmischen wird. Im Hinblick auf diese Konkurrenz stellt sich uns die gleiche Problematik wie hinsichtlich der Start-ups: Diese Unternehmen haben andere Prozesse, eine andere Denkweise, schnellere Entscheidungswege und auch größere Fundings, um etwas auszuprobieren. Da experimentiert man nicht mit 50.000 Euro, sondern eher mit 50 Millionen.

mgm-Redaktion: Hat ein Unternehmen wie AGCS angesichts dieser Konkurrenz überhaupt noch Möglichkeiten, im Markt zu bestehen?

Bettina Stoob: Ich verwende einen Großteil meiner Zeit darauf, Aufmerksamkeit für dieses Thema zu schaffen, damit am Ende des Tages die Führungsebenen mitziehen und bereit sind, etwas zu verändern. Im Zuge unserer Digitalstrategie haben wir beispielsweise ein sogenanntes „Bimodal Operational Model“ geschaffen, mit dem wir zwei verschiedene Geschwindigkeiten und Arbeitsstile im Unternehmen etablieren wollen. Zum einen die klassischen Operations, die das existierende Geschäft am Laufen halten, und zum anderen so etwas wie eine schnelle Eingreiftruppe mit einer abgespeckten Governance, sodass man Dinge einfacher und schneller ausprobieren kann.

mgm-Redaktion: Noch eine letzte Frage zu Ihrem Vortrag: Welche Kernaussage sollen die Besucher am Ende des Tages mit nach Hause nehmen?

Bettina Stoob: Innerhalb der Entwicklung unserer Digitalstrategie hatten wir einige Learnings – sowohl positiv als auch negativ –, die ich in Hamburg vorstellen möchte. Man sollte beispielsweise tunlichst vermeiden, ein solches Projekt als Hobbysegler anzugehen. In unserem Fall haben die an den Diskussionen zur Digitalstrategie beteiligten Personen dieses Projekt neben ihrer eigentlichen Tätigkeit vorangetrieben. Rückblickend wäre es wahrscheinlich besser gewesen, das Kernteam für ein halbes Jahr von anderen Aufgaben freizustellen, innerhalb dieser sechs Monate ein paar Meilensteine zu definieren und die fertige Strategie als Endziel dieses halben Jahres auszugeben. Wenn die Zuhörer anhand solcher Beispiele verstehen, auf was man bei einem solchen Strategieprozess achten sollte, und die eine oder andere Anregung für ihre eigenen Vorhaben mitnehmen können, wäre das ein gutes Ergebnis des Vortrags.

mgm-Redaktion: Frau Stoob, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.