Nachbericht zum Thementrack „Driving Digital Transformation“ auf der solutions.hamburg 2017

Eine stillgelegte Maschinenfabrik im Hamburger Norden – eine bessere Location als das Kulturzentrum Kampnagel hätten die Organisatoren der solutions.hamburg für Deutschlands größten Digitalisierungskongress nicht auswählen können. Schließlich lässt es sich wohl nirgendwo so hervorragend über die Möglichkeiten des digitalen Wandels diskutieren wie im Schatten der „alten“ Schwerindustrie.

Ein passendes Format hierfür bot der Thementrack „Driving Digital Transformation“, den mgm im Rahmen des Strategy Days am 6. September gestaltete. Bereits in ihrer Begrüßung brachte mgm-Managerin Ariane Hager, die als Moderatorin ebenso gekonnt wie charmant durch den Tag führte, das Ziel der Vortragsreihe auf den Punkt: „Wir wollen Wissen teilen und lernen. Wir wollen gemeinsam in die Zukunft blicken und uns gegenseitig inspirieren.“ Dementsprechend verstiegen sich die eingeladenen Speaker getreu des Tracktitels auch nicht in theoretischen Abhandlungen, sondern berichteten eindrücklich von ihren eigenen Erfahrungen mit der digitalen Transformation.

Dabei kristallisierten sich insbesondere zwei übergreifende Herausforderungen heraus, denen sich Firmen im Zuge der Digitalisierung stellen müssen: Wie schafft man es zum einen als etabliertes Unternehmen, die Chancen und Möglichkeiten des digitalen Wandels zu nutzen, um das eigene Geschäftsmodell zukunftsfähig zu halten? Und wie gelingt es zum anderen, die eigenen Mitarbeiter nicht nur auf die Veränderungen vorzubereiten, sondern auch von deren Notwendigkeit zu überzeugen?

Die Disruption ist in vollem Gange

Wie umwälzend die Kraft der Digitalisierung sein kann, verdeutlichte insbesondere Dr. Michael Merz, Geschäftsführer des Softwareunternehmens PONTON, der sich in seinem Vortrag mit den Einsatzpotenzialen der Blockchain in der Industrie auseinandersetzte. Dabei stellte er mit der Peer-to-Peer-Trading-Plattform Enerchain ein Projekt vor, über das Energiehändler ihre Produkte mithilfe der Blockchain direkt miteinander handeln können – ohne einen Dritten in der Mitte. Den beteiligten Händlern verspricht diese neue Methode mehr Effizienz bei geringeren Kosten – für die betroffenen Intermediäre könnte sie hingegen eine tiefgreifende Disruption des Geschäftsmodells bedeuten.

Ein ähnliches Potential wird auch anderen Technologien wie Wearables, dem Internet of Things sowie der Augmented und Virtual Reality zugesprochen. Bis diese Technologien ihren aktuellen Hypestatus überwunden haben und tatsächlich im Massenmarkt produktiv eingesetzt werden können, kann nach Ansicht von Dr. Fedor Titov, Geschäftsführer des Augmented-Reality-Start-ups attenio, allerdings noch ein wenig Zeit vergehen. Als Ausrede, den Trend zu ignorieren, will Titov diesen Status quo allerdings nicht gelten lassen. Vielmehr gehe es darum, die Komplexität der Prozesse in vielen Industriezweigen in kleinen Schritten zu reduzieren.

Wie gewinnt die „Gorch Fock“ den America´s Cup?

Dass insbesondere weltumspannende Konzerne oftmals Probleme damit haben, mit der von der technischen Entwicklung getriebenen Geschwindigkeit des digitalen Wandels Schritt zu halten, schilderte Bettina Stoob, Head of Global Innovation des Industrieversicherers Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS). Passend zum hanseatischen Veranstaltungsort verglich sie ihr Unternehmen mit dem altehrwürdigen Segelschulschiff „Gorch Fock“: Wie dieses sei AGCS zwar äußerst stabil und läge gut im Wasser, schnelle Wendemanöver seien unter diesen Voraussetzungen allerdings nur schwer durchführbar. Da AGCS ebenso wenig ad hoc zu einem Unternehmen mit Start-up-Kultur umgebaut werden könne wie die „Gorch Fock“ zu einer wendigen Rennyacht, plädierte Stoob für eine pragmatische Lösung: Das Mutterschiff leistet sich ein zweites Boot. Ein bimodales Organisationsmodell, in dem sich eine Gruppe weiterhin um das traditionelle Tagesgeschäft kümmert, während die andere Gruppe die Herausforderungen des Unternehmens agil und themenorientiert angeht, sei in ihren Augen sehr erfolgsversprechend. Allerdings seien die oftmals langjährigen Mitarbeiter von AGCS nicht immer sofort in einem Unternehmensbereich mit Rennyachtcharakter einsetzbar. Aus diesem Grund setze ihr Unternehmen nun ein Digital-Literacy-Programm auf, um die Kollegen auf die neue Arbeitsweise vorzubereiten.

Eine ähnliche Auffassung bezüglich der Einbindung der Mitarbeiter vertrat auch Uwe Kolk, CIO des Flurförderzeug- und Logistiksystemherstellers Jungheinrich. Man könne Mitarbeiter nicht einfach „über den Zaun werfen“ und erwarten, dass sie sich selbst freischwimmen. Es sei vielmehr die Aufgabe des Unternehmens, entsprechende Rahmenbedingungen und Befähigungen zu schaffen. Eine zentrale Bedeutung käme hierbei einem unternehmensweiten Wertesystem zu, das Mitarbeitern auch in agiler Arbeitsweise Orientierung bietet und aus dem sich klare Aufgaben und Verantwortlichkeiten ableiten. Zudem sollten sich Führungskräfte darum bemühen, selbst die durch die Digitalisierung initiierten Veränderungen anzunehmen und als Vorbild für die Mitarbeiter zu fungieren. Es gehe nicht darum, jeden Einzelnen zu motivieren und für die Veränderungsprozesse zu begeistern, sondern gute Angebote zu schaffen, denen die Kollegen von sich aus folgen.

Wie dies konkret aussehen kann, verdeutlichte wenig später sein Kollege Herwig Fölster, Leiter der Abteilung Digital Services bei Jungheinrich. Mit einer Aktivsession band er das Publikum über Live-Umfragen direkt in seinen Vortrag über Agilität im Konzern und die Aufgaben der „dienenden Projektleitung“ ein. Im Gegensatz zur traditionellen Führung, die auf dem Top-down-Prinzip aufbaut, sei es Aufgabe der dienenden Führung, Veränderungen des individuellen Verhaltens und der Unternehmenskultur nicht zu befehlen, sondern durch die Schaffung von Ritualen anzustoßen. Dabei könne sich die Führung nicht selbst aus diesen Ritualen heraushalten. Stattdessen gelte die Regel: „Eat your own dog food!“ Zudem plädierte Herr Fölster für die Bildung überschaubarer agiler Kernteams, die Experten und Stakeholder außerhalb der Teamgrenzen nur bei Bedarf ins Boot holen und sich zunächst insbesondere auf die zentralen 25 Prozent eines Projekts konzentrieren, um sich nicht in Details zu verlieren.

Investieren, um zu lernen

Eine weitere Möglichkeit, wie etablierte Unternehmen mit der Geschwindigkeit des digitalen Wandels mithalten können, ohne ihre Traditionen verleugnen zu müssen, stellten Marc Ramelow, geschäftsführender Gesellschafter des Modehauses Ramelow, und Martin Brücher, Geschäftsführer von FASHION CLOUD, einer Content-Plattform für den Modehandel, in einem gemeinsamen Talk vor. Mit dem Investment Ramelows in das Start-up habe sich eine überaus fruchtbare Kooperation für beide Seiten ergeben. Während Ramelow FASHION CLOUD nicht nur wertvolle Kontakte in die Modebranche, sondern innerhalb seiner Häuser auch ein Experimentierfeld für neue Anwendungen liefert, profitiert der Einzelhändler von innovativen Ideen wie der App Clara. Diese gibt dem Verkaufspersonal die Möglichkeit, vom Kunden gewünschte, aber nicht im Laden vorhandene Produkte mit wenigen Klicks beim Lieferanten zu bestellen. Auf diese Weise seien innerhalb von fünf Monaten bereits über 1.000 Bestellungen getätigt und die Kundenzufriedenheit erhöht worden. Die Zusammenarbeit zwischen Ramelow und FASHION CLOUD sei daher ein gutes Beispiel für die funktionierenden Schnittstellen zwischen Tech-Start-up und klassischem Einzelhandel.

Ebenso wie der Einzelhandel hat auch das Verlagsgeschäft die Auswirkungen des digitalen Wandels bereits in ihrer vollen Ausprägung zu spüren bekommen. Wie trotz dieser tiefgreifenden Veränderungsprozesse eine erfolgreiche Nutzergenerierung und -bindung gelingen kann, zeigte Dr. Ruth Betz, Director Audience Development Management bei Bauer Xcel, am Beispiel des Frauenportals WUNDERWEIB. Im Zuge ihrer Audience-Development-Strategie habe sie die Begriffe Standardisierung, Personalisierung und Diversifizierung als zentrale Säulen identifiziert. So seien in den vergangenen Jahren firmeninterne Prozesse und technische Grundlagen wie das verwendete CMS über alle Portale des Verlags hinweg standardisiert worden. Zudem verwende Bauer Xcel viel Energie darauf, die Angebote persönlich auf den einzelnen Nutzer zuzuschneiden und ständig neue Kanäle zu erschließen, um sich von großen, aber unberechenbaren Trafficquellen wie Google und Facebook unabhängiger zu machen.

„Disrupt yourself before you get disrupted“

Wie sich im Laufe des Thementracks „Driving Digital Transformation“ herausstellte, betrifft die Digitalisierung allerdings nicht nur den Einzelhandel und das Verlagswesen, sondern auch so stabil erscheinende Branchen wie den Energiesektor. So ist sich beispielsweise der Kraftwerksbetreiber Uniper voll und ganz bewusst, dass das traditionelle Kraftwerksgeschäft im Zuge der Energiewende in den kommenden Jahren abnehmen wird, berichtete Dr. Ing. Carsten Mielke, Digitization Lead des Unternehmens. Daher seien neue Wege erforderlich, die eventuell sogar solch radikale Schritte wie einen Branchenwechsel nötig machen könnten. Seine Aufgabe innerhalb der IT habe sich daher grundlegend gewandelt: Während er früher hauptsächlich für die Stabilität der Systeme verantwortlich gewesen sei, betätige er sich nun als Digital Disruptor, um ebendiese Stabilität auf den Prüfstand zu stellen. „Disrupt yourself before you get disrupted“, lautet demnach der neue Kerngedanke bei Uniper.

Ein konkretes Beispiel zur Digitalisierung der Energiewirtschaft stellte anschließend Carsten Klingels, Head of Digital IT bei E.ON Business Services, vor. Um Ideen möglichst schnell zu kundenfertigen Produkten zu entwickeln, sei das „Digital Delivery Network“ entstanden, durch das Produktverantwortlichen nicht nur ein Partner- und Expertennetzwerk und ein Set an Methoden, sondern auch eine zentral orchestrierte Plattform und eine digitale Referenzarchitektur zur Verfügung gestellt werden. Auf diese Weise sei E.ON in der Lage, den Produktinnovationsprozess zu skalieren.

Macht die Digitalisierung menschliche Arbeit obsolet?

Nach einem spannenden Tag voller Erfahrungen aus der Praxis versammelten sich zum Abschluss des Thementracks neben Frank Kneschke, dem Geschäftsführer der mgm consulting partners, einige vorherige Speaker zur Podiumsdiskussion, um den Fokus auf die Digitalisierung noch ein wenig zu erweitern. Insbesondere die Frage, ob der digitale Wandel menschliche Arbeit irgendwann überflüssig machen könne, machte dabei deutlich, dass die Digitalisierung nicht nur eine technische und ökonomische, sondern auch eine gesellschaftspolitische Herausforderung ist.

„Die Gesellschaft muss sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass irgendwann vielleicht nicht mehr genug Arbeit für alle vorhanden ist“, erklärte Carsten Mielke. Um sich auf diese Situation vorzubereiten, müsse die Gesellschaft rechtzeitig passende Antworten finden und auch Lösungsansätze wie das bedingungslose Grundeinkommen diskutieren. Darüber hinaus plädierte er dafür, sich von der vorherrschenden Stigmatisierung der Arbeitslosigkeit zu lösen. Die Welle der Automatisierung habe die IT im Gegensatz zur Fertigungsindustrie zudem noch nicht erreicht, warnte Uwe Kolk. Auch wenn es in Zeiten des Fachkräftemangels widersprüchlich erscheine, sich derartige Sorgen zu machen, hätte die Branche für diese Veränderung noch keine geeigneten Strategien.

Positiver blickte dagegen Carsten Klingels in die Zukunft. „Vielleicht entstehen neue Geschäftsmodelle, die wir jetzt noch gar nicht absehen können“, wagte der Head of Digital IT von E.ON Business Services eine Prognose. Diese neuen Geschäftsmodelle könnten durchaus neue Arbeitsmöglichkeiten mit sich bringen. Die Digitalisierung sei vor allem eine Chance – ein Urteil, dem sich Speaker und Publikum vorbehaltlos anschließen konnten.