Vom Underwriter zum IT-Dienstleister – Die Digitalisierungskolumne von Alexander Stolte.

Underwriting ist ein erfahrungsgetriebenes Geschäft. Als ich meine Karriere im Bereich Transportversicherung angefangen habe, zeigte mir mein Vorgesetzter ein Formblatt, das vier Punkte abfragte: Um welche Güter geht es? Von wo nach wo gehen sie? Mit welchem Transportmittel? Und gegen welche Gefahren sind sie versichert? Er sagte: „Jetzt wissen sie im Grunde alles, was sie über Transportversicherung wissen müssen. Aber bis Sie ein vollwertiger Underwriter sind, dauert es fünf bis zehn Jahre.“ Er hatte Recht. Erst die Erfahrung ermöglicht es, Risiken adäquat einzuschätzen.

Eine zentrale Herausforderung der Digitalisierung besteht nun darin, diesen Erfahrungsschatz in Systemen abzubilden und die Entscheidungen an das System zu delegieren. Hier gibt es drei Entscheidungsklassen:

  • Weiß: Das System entscheidet, dass das Risiko versichert wird.
  • Schwarz: Das System lehnt ab, das Risiko zu versichern.
  • Grau: Das System trifft noch keine Entscheidung. Es benötigt weitere Informationen oder die Einschätzung eines Underwriters.

Um von der Digitalisierung zu profitieren, sollte das System möglichst wenige Grauentscheidungen treffen. Dabei kommt es nämlich zu keinem automatisierten Ablauf, sondern einer Unterbrechung und manuellen Bearbeitung. Genau hier ergibt sich ein Konflikt mit dem Selbstverständnis des Underwriters, der es gewohnt ist, Individualentscheidungen auf Basis seiner Erfahrung zu treffen.

Denn wenn Underwriter ihre Erfahrung in die Systeme gießen und Entscheidungen überantworten, müssen sie Regeln aufstellen. Und um Grauentscheidungen zu vermeiden, sind gewisse Grundsatzentscheidungen nötig – nach dem Motto: „Das machen wir jetzt immer so“. Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie schwierig das für einen Underwriter ist. Vielleicht trifft das System in 80 Prozent der Fälle die richtige Entscheidung und liegt in 20 Prozent daneben. Dafür gibt es schnellere Entscheidungen, schnellere Prozesse und geringere Kosten.

Das Versicherungsunternehmen muss diese Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen. Gleichzeitig muss es die Underwriter aber auch von der Verantwortung entlasten, im Einzelfall durch diese Digitalisierung auch mal falsche Entscheidungen mitunterstützt zu haben. Digitalisierung beginnt nicht bei der 100-Prozent-Lösung. Es geht vielmehr darum, mit einem akzeptablen Entscheidungsraster im System zu starten und die Regeln sukzessive zu verbessern.

Über den Autor:

Mehr als 20 Jahre hat Alexander Stolte als Underwriter Risiken im Bereich Transportversicherung bewertet. Heute treibt er als IT- und Beratungsdienstleister die Digitalisierung in der Industrieversicherung voran. In seiner Kolumne berichtet er von den Erfahrungen dieses Perspektivwechsels.

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