Die Digitalisierung treibt den Wandel in der Industrie- und Gewerbeversicherungsbranche voran. Ob der Schritt in eine digitale Zukunft gelingt, entscheidet langfristig über den Geschäftserfolg Ihrer Firma. Lesen Sie im ersten Teil unserer Serie, wie die Digitalisierung das Handeln der Akteure auf dem Markt beeinflusst und welche Ziele und Chancen sich dadurch für die Assekuranzen ergeben. 

„Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen“ – kennen Sie dieses chinesische Sprichwort? In der Versicherungsbranche ist diese uralte Weisheit im Zuge der Digitalisierung aktueller denn je. Schließlich steckt dahinter eine kritische Entscheidung, die jedes Unternehmen treffen muss. Die Gretchenfrage lautet: An bewährten Abläufen festhalten oder Segel setzen und den Wandel aktiv mitgestalten?

Die Antwort darauf bestimmt das künftige Handeln in einem sich rasant verändernden Markt. Nahezu täglich machen Nachrichten über neue Akquisitionen, Kooperationen oder innovative Entwicklungen die Runde. Die Digitalisierung wirbelt die Branche auf und bringt vielfältige Herausforderungen für Industrie- und Gewerbeversicherer mit sich – aber auch die Chance, sich zu erneuern und zu wachsen.

Ziele der Digitalisierung: Veränderungen zweigleisig gestalten

Dabei ist Digitalisierung keine Einbahnstraße, sondern vollzieht sich strategisch und operational auf zwei Ebenen. Denn der Innovationsprozess geschieht nicht nur im Unternehmensinneren, sondern wird durch Marktimpulse von außen mitbestimmt. So ergeben sich diese Digitalisierungsansätze:

  • Eigenes Produkt- und Services-Angebot optimieren. Neue Technologien helfen dabei, Komplexität zu reduzieren und schlanke, effizientere Arbeitsabläufe zu schaffen.
  • Internes Know-how im Underwriting strukturieren und in Form spezialisierter Produkte digital abbilden.
  • Kooperationen mit bisherigen Partnern festigen und damit die eigene Marktposition sichern und ausbauen.
  • Kräfteverhältnis auf dem Markt verändern – etwa durch die Einführung eines innovativen Produkts oder das Eindringen in ein bisher fremd besetztes Marksegment.

Während die Ziele der ersten beiden Punkte einer intrinsischen Motivation entwachsen, spiegelt sich in den letzten Punkten der externe Einfluss wider. Denn diese Zielvorhaben resultieren primär aus dem Konkurrenz- und Innovationsdruck auf dem Markt.

Die Spezifika des Marktumfelds spielen bei der Analyse der Digitalisierungschancen eine ebenso große Rolle wie die internen Ambitionen und Transformationsprozesse. Denn Assekuranzen bewegen sich im gewerblichen Bereich in einem B2B-Marktumfeld, das sich durch ganz eigene Dynamiken und Marktkräfte auszeichnet. Es herrscht ein Spannungsverhältnis zwischen Marktgeschehen, Versicherungsprodukt und Vertriebskanal. In der oligopolistisch geprägten Industrie- und Gewerbeversicherungsbranche hat daher jede Marktbewegung einen signifikanten Effekt auf alle Akteure. Diese Ausgangslage beeinflusst künftige Entscheidungen und somit auch die Digitalisierungschancen.

Der Einfluss der Insurtechs

Für den Innovationsdruck auf dem Markt sind auch neue Player wie CyberDirekt oder Sobrado verantwortlich, die ein digitales Geschäftsmodell vorleben. Sie nutzen aktuelle Web-Technologien und werben mit einer schnellen, kundenfreundlichen Vertragsabwicklung von Standardprodukten. So verspricht etwa CyberDirekt eine „Absicherung gegen Cyber-Angriffe in nur 5 Minuten“. Das macht ihr Angebot attraktiv für internetaffine Zielgruppen. Gleichzeitig steigen auch die Ansprüche der Kunden hinsichtlich technischer Standards. Sie erwarten schlichtweg, dass Versicherer moderne, intuitiv zu bedienende Online-Plattformen zur Verfügung stellen. Diese Anspruchshaltung ist eine Folge der Digitalisierung und drängt traditionelle Versicherer dazu, ihre Geschäftsmodelle weiter zu entwickeln. Hierin liegt die Chance, veraltete IT-Systeme aufzurüsten oder zu ersetzen.

Für Innovationsdruck sorgen auch die Ansprüche der Kunden, was technische Standards angeht.

Der Einstieg von jungen, agilen Insurtechs in die eher auf Stabilität bedachte Branche steht beispielhaft für den Kulturwandel, den die Digitalisierung im Versicherungswesen ausgelöst hat. Denn die digitalen Trendsetter injizieren nicht nur innovative Technik, sondern ihr Geschäftsmodell hebt den Wettbewerb um Marktanteile auf ein neues Level. Daher fokussiert sich innovatives Handeln der etablierten Versicherer häufig darauf, sich besser im Markt zu positionieren, weniger auf interne Erneuerungsprozesse. Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum Assekuranzen gegenwärtig häufig Wettbewerber aufkaufen, mit ihnen fusionieren oder sogar mit branchenfremden Firmen kooperieren. Damit nutzen die Assekuranzen die Chance, frisches Know-how zu erwerben, neue IT-Strukturen zu adaptieren und sich so von der Konkurrenz abzuheben.

Gewerbe- und Industrieversicherung: Digitalisierungschancen auf Marktebene.
Die Gretchenfrage in der Industrie- und Gewerbeversicherung: Mit Rückenwind Wandel mitgestalten oder an alten Strukturen festhalten.

Digitalisierungschancen auf dem Markt: Das sind die Ansätze

In welcher Form Versicherer die Digitalisierung vorantreiben, ist eine strategische Entscheidung. Bezogen auf Kernprozesse wie Vertrieb, Underwriting, Schadenbearbeitung und Vertragsverwaltung sind unterschiedliche Ansätze möglich. Wie die Assekuranzen vorgehen, hängt nicht zuletzt von ihren bedienten Kundensegmenten und den existierenden Vertriebspartnerschaften ab:

  • Ein auf die Verbesserung des Underwriting-Ergebnisses gerichteter Ansatz könnte darauf abzielen, Entscheidungsprozesse und Entscheidungsfindung durch Einbindung von Services von Spezialdienstleistern zu vereinfachen und zu optimieren. Hier spielt die Risikoselektion eine zentrale Rolle in den Digitalisierungsbemühungen.
  • In Bezug auf den Marktzugang gilt: Je erklärungsbedürftiger ein spezifisches Versicherungsprodukt und je umfassender die Risikoerfassung ist, desto eher zielen neue Techniken darauf ab, bestehende Vertriebspartnerschaften zu digitalisieren und damit den strukturierten Datenaustausch zwischen den Partnern zu fokussieren. Soweit es nicht möglich ist, ein komplexes Underwriting-Modell hinreichend zu vereinfachen, werden Vermittler weiterhin eine tragende Rolle im Geschäftsmodell des betreffenden Versicherers spielen. Ihre Aufgabe ist es, das Informationsgefälle zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer zu beheben.
  • Bedingt durch Standardisierung und dem einfachen Zugang über digitale Kanäle werden Preissegmente attraktiv, die zuvor im Rahmen individuell erarbeiteter Deckungsoptionen wirtschaftlich nicht zu erschließen waren. Gerade in preissensiblen Kundensegmenten schafft dieser Ansatz des digitalen Vertriebs standardisierter Produkte neue Spielräume für Versicherer.
  • Doch auch andersherum können Anbieter gewerblicher Standardprodukte in bislang nicht rentabel zu bedienende Marktsegmente vordringen. Dazu erweitern sie das angebotene Produkt um leicht auswählbare Zusatzbausteine und passen es damit an individuellere Deckungsbedürfnisse an.

Ausblick: Marktplätze in der Industrie- und Gewerbeversicherung

Die Digitalisierung hat viele Gesichter. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass der Commercial-Markt plötzlich eine markante Entwicklung aus dem B2C-Bereich adaptiert: Aggregation auf Vertriebsseite. Das heißt, dass sich auch im Commercial-Segment neue Handelsplätze etablieren. Ein Beispiel dafür ist eine Plattform wie Finanzchef24, die zentral Policen von mehreren Assekuranzen anbietet.

Aggregatoren als Vertriebskanal der Zukunft?

Sie könnten für gewerbliche Versicherer zu einem wichtigen Distributionskanal heranwachsen, obwohl sie sich damit vom klassischen Vertrieb über den Handelsvertreter oder Makler entfernen. Für die Assekuranzen bietet sich dadurch allerdings die Chance, stärker standardisierte Policen in hohen Stückzahlen abzusetzen und damit das eigene Portfolio zu diversifizieren. So sprechen sie neue Zielgruppen an.

Erweist sich dieses digitale Geschäftsmodell als tragfähig, könnten mittelfristig Online-Marktplätze á la Check24 entstehen, auf denen gewerbliche Versicherer ihre Policen vertreiben. Die Kunden profitieren dann von einem Maximum an Komfort, da sie alle Schritte, um eine Versicherung abzuschließen, an einer zentralen Stelle erledigen – Stichwort One-Point-Shopping. So oder so bleibt es spannend zu sehen, wie der digitale Wandel den Industrie- und Gewerbeversicherungsbereich verändert.

Fazit

Die Digitalisierung trägt dazu bei, den Wettbewerb um Marktsegmente und Marktanteile zusätzlich zu beleben. Der Wettbewerb reißt gefestigte Strukturen ein und stellt die bisherigen Rollen der Marktteilnehmer auf den Prüfstand. Sich aus diesem Spiel herauszuhalten, ist nicht möglich. Was ist dann aus Sicht der Versicherer entscheidend für den Erfolg der gewählten Strategie? Etwa Positionen im digitalen Markt zu besetzen, die für das bediente Kundensegment relevant sind und somit der Marktzugang – oder doch eine verbesserte Risikoselektion?

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